Balade au Panier / Ein Bummel durch das Panier-Viertel

Ein sonniger Märzvormittag… Ich schlendere am Alten Hafen vorbei, überquere den Quai du Port und will endlich das Quartier du Panier sehen, das 2. Arrondissement von Marseille, gegenüber Notre Dame de la Garde.

Marseille wird oft als das „Tor zum Orient“ bezeichnet. Kein Wunder, leben dort doch schon seit Jahrhunderten viele Einwanderer aus dem gesamten Mittelmeerraum. Besonders das Panier gilt als Schmelztiegel. „Panier“ heißt Korb und das passt, denn in diesem Korb ist ein buntes Gemisch von Menschen versammelt.

In Cheb Khaleds Song“ Oran Marseille“ geht es um die Liebe, um Algerien und Marseille, um Sehnsucht und Heimweh.

Zu Füßen des sich auf einem Hügel erstreckenden Panier-Viertels befanden sich einst zwei Häuserzeilen aus dem 18. Jahrhundert, die im Januar 1943 von den Deutschen zerstört wurden. Damit sollten Juden, die sich dort versteckt hatten, und gleichzeitig die Résistance vernichtet werden. Die Stadt Marseille hatte dort bereits in den 30er-Jahren eine Sanierung geplant, die einem Kahlschlag gleichkam. So entstanden in den 60er- und 70er-Jahren neue Häuser, deren Architektur bisweilen an die der deutschen in den 30ern erinnert und ein wenig beklemmend wirkt. Doch weiter hinten wirkt es heiterer.

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Schon vor der ersten Häuserreihe das Panier kommt eine leichtere meditarrane Stimmung auf.

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Dazu tragen die – wennglich noch unbelaubten – Platanen ein großes Stück bei. Dazu die verwaschenen Farben von Fassaden, Türen und Fensterläden.

Natürlich sind die Straßencafés auch im März geöffnet, erste Gäste nehmen Platz, unter diesem leuchtend blauen Himmel.

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Ich nehme die erste Treppe nach oben, um mir das Viertel zu erklettern. Die bekannte und belebte Place de Lenche lasse ich einfach aus und lasse mich treiben, wie so oft. Häufig sind die Nebenwege die schönsten.

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Auf meinem Weg sammele ich Grafitti. Ah, auch eine Sardinenbüchse ist dabei, noch geschlossen, der Laden – was wäre Marseille ohne die Sardinen und auch eine eine einzige berühmte Sardine, die einst den Hafen verstopft hat  (und ohne die Seife, die Savon de Marseille, die so ganz anders duftet)?!
„Sac arraché“? Mais non! Während meines Aufenthalts in Marseille hat niemand versucht, mir meine Tasche zu entreißen, auch nicht den immer offen in der Hand gehaltenen Fotoapparat.

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Still ist es, je weiter ich nach oben komme.

Seltsamerweise klingen kaum Geräusche aus den Wohnungen, auch die Gassen sind hier menschenleer. „I have a dream“ – ob hier so Mancher noch Träume hat…?

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Oben angelangt, stelle ich fest, dass es bunter geworden ist: Neben Pastellblau und Cremeweiß finde ich Rosa, Gelb- und Grüntöne. Eng stehen die Häuser zusammen, wie in Italien.  Hier kann man den Nachbarn gegenüber sicher in die Kochtöpfe schauen. Erinnerungen an ligurische Hafenstädte kommen auf; ein bisschen Neapel schwingt mit.

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Auch die Wäsche trocknet wie in Italien vor den Fassaden. ob es daher kommt, dass die meisten europäischen Einwanderer italienische Wurzeln haben?

Manche Gassen sehen frisch gewaschen aus. Auch wurden offenbar zahlreiche Häuser renoviert und aufgehübscht. Nun sehe ich auch endlich ein paar Menschen. Obwohl ich es schon genieße, hier ohne Touristentrubel zu flanieren, mag ich es doch, ab und zu einer Seele zu begegnen.

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Ich bin an einem Platz angelangt. Hier gibt es noch keine Straßencafés. Hübsch sind aber die Häuserfassaden der kleinen Geschäfte und Ateliers, in unterschiedlichen Farben gestaltet.

Auch ist man offenbar stolz auf sein Quartier oder nur marketingbewusst, denn hier spielt man mit dem Wort „Panier“, das sich auf vielen Ladenschildern befindet.

Hier bin ich wirklich im alten Kern von Marseille. Die Häuser stammen zumeist aus dem 18. Jahrhundert, viele sind jedoch auch sehr viel älter.

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Friedlich wirkt es. Doch der Platz heißt „Place des Pistoles“. Und da ist er wieder, der Gedanke an den Schriftsteller Jean Claude Izzo.

Er begleitete mich in Marseille auf all meinen Spaziergängen. Überall fand ich Anhaltspunkte, die mich an seine gesellschaftskritischen und im multikulturellen Milieu spielenden Kriminalromane erinnerten, vor allem an die Marseille-Trilogie. Der Protagonist, Polizist Fabio Montale, ist im Panier geboren, lebt aber außerhalb des Stadtzentrums. Im Panier kommen ihm nostalgische Jugenderinnerungen wieder ins Gedächnis. Dabei spielt auch die Rue des Pistoles eine Rolle.

Das Panier war immer ein Armenviertel, das Quartier der Exilanten, Verfolgten, der Seeleute. In „Chourmo“, dem zweiten Band der Marseille-Trilogie, lässt Izzo den Polizisten Fabio Montale sagen, dass die Renovierungstätigkeiten, die dem Viertel seinen schlechten Ruf nehmen sollten, nichts daran geändert hätten. Die Marseillais selbst gingen dort nicht spazieren, sogar jene nicht, die dort geboren wurden. Sobald sie ein paar Sous hatten, sind sie „auf die andere Seite“ des alten Hafens gezogen, schreibt Izzo. Inzwischen hat sich sicher Einiges geändert, in etlichen sanierten Häusern sind zum Beispiel Ferienwohnungen eingerichtet worden. Aber immer noch scheint das alte Flair durch, jedenfalls empfinde ich das so.

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Doch hier wird abgerissen, um Neuem Platz zu machen. Wie es wohl aussehen wird? Hoffentlich wird es liebenswert…

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Schon bin ich an der Vieille Charité angelangt, die sich quasi neben der Baustelle befindet. Die Alte Charité wurde zwischen 1671 und 1745 errichtet. Früher war sie ein Krankenhaus der Armen, heute ist das Gebäude eine Kulturstätte.

Auf meinem Spaziergang fange ich noch ein paar Türen ein…,

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…dann geht es weiter ins Labyrinth der Gassen. In der Rue du Panier und den Nebenstraßen belebt es sich etwas. Hier gibt es kleine Cafés und Restaurants, außerdem ist es fast Mittag.

Die flirrende Märzsonne will keine Zwischentöne zulassen, gleißende Helligkeit konkurriert mit Dunkel. Einige Bewohner des Viertels, fast ausschließlich männlich, treffen sich vor winzigen Bistros und nehmen draußen an den Tischen Platz. Es wirkt wie ein gemeinsames öffentliches Wohn- und Esszimmer. Hier werde ich als Touristin doch ein wenig bestaunt, anscheinend verirren sich nicht so viele Fremde hierher, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit. Ich will nicht stören und wende mich Seitengassen zu.

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Auch hier gibt es Vieles zu entdecken. Neben den Blautönen haben es mir Gelb und Ocker besonders angetan.

Hier dienen die Gassen auch als Spielstraße. Kinder balgen sich auf dem Boden, ein kleines Mädchen besteht darauf, mit Puppe zu posieren und von mir abgelichtet zu werden, um sich dann freudig das Ergebnis auf dem Display anzugucken.

Ich steige noch weiter die Treppen hinaus bis zur Place des Moulins. Dort treffe ich den einzigen anderen Touristen auf meinem Rundgang. Ein Franzose hat sich verlaufen und borgt sich kurz meinen Stadtplan aus, den ich selbst gar nicht benutzt habe.

Voller Eindrücke und hungrig mache ich mich auf Weg bergab. Als ich wieder am Alten Hafen angelange, zurück im brodelnden Leben, habe ich ein wenig das Gefühl, eine kleine Zeitreise gemacht zu haben, in ein anderes Marseille.

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12 Antworten zu Balade au Panier / Ein Bummel durch das Panier-Viertel

  1. Sofasophia schreibt:

    boah, oppulent, deine marseiller abenteuerbilder!
    schön zusammengestellt. danke fürs teilen!

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  2. Jürgen Ehre schreibt:

    Eine wunderschöne Promenade und Reportage durch dieses so bekannte Viertel von Marseille… mit viel Poesie und scharfem Auge für das Leben und die Geschichte dieser Hafenstadt gesehen… und interessant beschrieben! Das ist eine Einladung zum Besuch!

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  3. Wolfgang schreibt:

    Beeindruckende Fotostrecke. Und die dazu passenden Texte. Hinfahren wollen 🙂 LG Wolfgang

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  4. Frau Blau schreibt:

    ein toller Bericht! Bilder untermalen die Worte und ich bekomme zum ersten Mal (als ohne-TV-Leberin) einen wunderbaren Eindruck von Marseille, ja, auch so ein Ort, den ich schon lange einmal besuchen möchte, aber nächstes Jahr ist erst einmal die Bretagne dran: ich schwöre … 😉

    herzliche Grüße
    Ulli (vom fremden Rechner, bei uns daheim geht grad mal wieder gar nichts … grrr…)

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  5. haushundhirschblog schreibt:

    Auch diesmal wieder ein wunderbarer, feinst bebilderter Artikel, liebe rotewelt, der uns Marseille auf eine besondere, persönliche Weise näher bringt. Immer wieder ist es ein wahrer Genuss für uns, hier mit Dir auf eine Reise gehen zu dürfen.
    Liebe Grüße, mb und dm

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  6. traeumerleswelt schreibt:

    wirklich ein wunderschöner Bericht einer mir noch unbekannten Stadt ! Das heisst, einmal bin ich durchgefahren, auf dem Heimweg von Korsika, irgendwie in der Dunkelheit den rechten Weg verpasst und mitten in der Stadt gelandet. Aber bei Tageslicht und in Ruhe zu Fuss erkunden, das habe ich noch (irgendwann ?) vor mir. Danke fürs mitnehmen !

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  7. Bodenseewellen schreibt:

    Zauberhafte Bilder und ein schöner Bericht!! Marseille möchte ich mir auch gerne mal anschauen. Auch deine Bodenseebilder sind klasse! Genau an der Stelle am Hafen habe ich im Sommer Bilder gemacht.
    Liebe Grüße,
    Gina

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  8. rotewelt schreibt:

    Vielen Dank, ihr Lieben, merci beaucoup! Habe euch gern mit auf die, wenngleich virtuelle, Reise genommen! Marseille ist wirklich eine Reise wert und ich habe gern dafür „geworben“ – na ja, ich habe vor allem meine persönlichen Eindrücke wiedergegeben. Für Marketingzwecke hätte ich den Bericht sicher ein wenig anders gestaltet. 😉

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  9. Da schließe ich mich meinen VorschreibernInnen gern an, liebe Ute. Du hast mal wieder wunderschöne Fotos geschossen und es absolut kurzweilig beschrieben!
    Man ist richtig dabei!

    Liebe Grüße, Suse 🙂

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  10. kormoranflug schreibt:

    Wunderbar eingefangen. Sofort könnte ich loslaufen…..

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