Antizyklische Freiheiten

Im Moment verhalte ich mich ziemlich antizyklisch, noch mehr als sowieso schon. Zum Beispiel ging ich im Urlaub nur dann schwimmen, bevor oder nachdem die Massen kamen und wenn es nicht zu heiß war, und ich gehe derzeit einkaufen, wenn alle anderen schon vor der Glotze hocken und auf das runde Leder warten. Die Supermärkte sind so schön leer dann, fast ausgestorben und man kann nette Gespräche mit den Verkäuferinnen führen, wie gerade eben, nur ein paar Verspätete kaufen noch die letzten Bier-Secherpacks, -kästen und sogar Fässer. Wieviel Bier wohl während der WM konsumiert wird und mit welchen Folgen? Ich mag es mir gar nicht vorstellen. Überhaupt habe ich diese Klientel, solche einkaufenden jüngeren Männer, oft in Kleingruppen das Bierangebot überprüfend, zum Teil ganzkörpertätowiert und bisweilen verwegen bis verlottert gekleidet, mit düsteren Mienen, noch nie in den Läden gesehen.

Auf dem Rückweg sah ich, wie eine Frau aus einem verwahrlosten Haus herauskam, das mir schon immer auffiel, es wirkt wie eine Insel, direkt unter der Bahnlinie und an einer vielbefahrenen Kreuzung, jedenfalls hatte sich die Frau eine große Deutschlandflagge als Cape um ihr sommerliches Shorts-T-Shirt-Outfit geworfen, und sich zu einer Gruppe in das Minigärtchen, direkt an der Straße und nur durch eine hässliche Bauplane abgegrenzt, gesetzt. Ja, für solche Menschen kann ein Deutschlandsieg im Fußball etwas Besonderes bedeuten und trotzdem haben sie nichts davon und bleiben in ihrer seit Jahrzehnten unrenovierten Behausung, während die Spieler, mit denen sie sich solidarisch fühlen, ein finanziell mehr als abgesichertes Leben führen und über diverse Stadtwohnungen und Landsitze verfügen.

Ich habe nichts gegen Fußball und bis vor 12 Jahren habe ich auch schon mal mit Interesse eine WM und EM verfolgt, aber seitdem hat mich die Lust auf Sport-Schau verlassen. Das ergab sich einfach so. Vielleicht liegt es daran, dass die charismatischen Spieler von damals nicht mehr dabei sind, da gab es noch echte Charaktere, echte Marken, intelligent, besonders und manchmal mit Witz -beste Fußballer und Torhüter. Vielleicht gibt es die noch, sicher, aber das ist dann wohl an mir vorbeigegangen. Die Tour de France, die ich früher sehr gern gesehen hatte, hat ebenfalls schon lange ihren Reiz für mich verloren, alles zu verlogen, und auch Tennisturniere und Skirennen schaue ich nicht mehr. Aber warum bloß ist ausgerechnet Fußball sooo wichtig für die Menschheit? Brasilien hat auch andere Probleme, nun werden schon Favelas gentrifiziert. Geld für Stadien und den ganzen Aufwand ist da, aber für die Armen bleibt nichts übrig.

Ich kann daran nichts ändern. Aber man muss unbedingt vor Spielende wieder zu Hause sein, denn dann beginnen die Jagden der bewimpelten Autos, oft verfolgt oder kontrolliert von sirenenbewehrten Polizeiwagen. Auch in Freiburg, ja. Dazwischen will ich lieber nicht geraten.

Wer hat überhaupt verordnet, dass alle im WM-Fieber zu sein haben, bitteschön? Warum wird man heute selbst als Frau zur absoluten Außenseiterin, wenn man sich nicht infizieren lässt und sich vom Trubel fernhält? Was sind das für seltsame Massenphänomene und warum betreffen sie ausgerechnet nur die Sportart Fußball? Hat jemand Fußballdrogen ins Trinkwasser gekippt oder unmerklich Gehirnwäsche betrieben, der ausgerechnet ich entwischt bin?

Und warum diese unsäglich doofen Landesflaggen, die überall in Miniaturformat Autos und Gegend „schmücken“? Ich kenne keinen Nationalstolz. Was kann ich dafür, dass ich in ein Land hineingeboren wurde? Was kann ich für die Errungenschaften meiner Vorfahren? Und was kann ich, nebenbei, für deren Gräueltaten? Nichts. Warum sollte ich stolz auf eine hochbezahlte Elf sein, die sich im Namen einer Nation auf dem Rasen abmüht? Mir ist das ziemlich fremd.

Ich will auch keine Nationalflaggenpuddings und –marmeladen und keinen Wimpel auf meinem Dessert, so wie es mir vor dem letzten Deutschlandspiel serviert wurde – ein deutsches Fähnchen auf einem italienischen Tiramisu als Nachtisch zu meiner italienischen Pizza, von einem Philippino geliefert, der mir und Deutschland alles Gute wünschte! Ja, so ist es geschehen, ich schwöre es. Aber weil er es so nett und mit einem strahlenden Lächeln vorbrachte, bedankte ich mich artig.

Überhaupt habe ich was gegen alles Massenhafte. Das ist mir – auch wenn es fröhlich ist – etwas unheimlich. So wie Karneval und der Christopher Street Day und die Love Parade, das alles stößt mich ziemlich ab.

Ich bin frei zu denken und zu zu tun, was ich will, solange ich niemandem schade oder weh tue und die Freiheit anderer einschränke. Ich bin frei, es lebe die Freiheit!

Und wer bei der WM gewinnt, ist mir egal, ich wünsche es aber der am besten spielenden Mannschaft.

Gerade röhrt ein tiefergelegter Golf vorbei, da hat es jemand eilig, das Spiel gegen Ghana hat schon angefangen, glaube ich. Die Tore kriege ich sicher wieder von den Nachbarn mit.

Ich wünsche allen Fußballfreunden viel Spaß bei den Spielen! Aber guckt mich nicht an, als wäre ich ein Alien, nur weil ich nicht im Fußballfieber bin. Obrigada! 🙂

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12 Antworten zu Antizyklische Freiheiten

  1. Sofasophia schreibt:

    de nada … ich nicke nur und grinse und freue mich über die laue sommernacht!

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  2. kormoranflug schreibt:

    Mir geht es da genau wie Dir. Gut mal ein Spiel ansehen damit ich wenigsten am nächsten Morgen bei einem Kunden in groben Zügen weiss wie der Torverlauf war……? Aber Fußball wird ja sogar schon zu einem ‚Kulturgut‘ hochgejubelt. Nein, nein das werde ich nie verstehen!

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  3. aquasdemarco schreibt:

    Also ich finde es gar nicht so übertrieben schlimm. Es ist eines der wenigen Massenereignisse.
    Was ist so schlimm an den Fähnchen, hier in der Nachbarschaft ist es sehr bunt. Gegenüber hängt ein Ghana Fahne, um die Ecke England (immer noch), Kroatien, etwas weiter Holland an einem Balkon. Natürlich überwiegt Deutschland, warum auch nicht, es ist ja die Heimat dieser 3 farbigen Fähnchen.
    Gestern saßen wir mit 200 Menschen im Gemeindehaus, ich habe mich mit Menschen unterhalten, mit denen ich sonst nicht unbedingt reden würde. Fussball/Fan sein, zeigt eine Schwachstelle unserer Gesellschaft auf, Gemeinschaft. Im Fussball können wir es noch, gemeinsam für etwas sein, gemeinsam verlieren und gewinnen, zusammenhalten.
    Gestern kam mir eine Familie geschminkt und kostümiert entgegen, welch ein Lichtblick im gesellschaftkonformen Alltag. Ich mag nicht die FIFA und die Strukturen des großen Geldes, aber ich mag Fussball, weil er uns das Leben in philosophischer Form spiegelt.
    Und Fussball ist sicherlich ein Ventil, schade wenn wir es brauchen und nicht so leben können, dass es nicht nötig ist.
    Aber du schreibst ja auch, warum du es nicht magst, dieses Massenhafte. Ja, der Fussball kann uns viel über uns erzählen, wenn wir zuhören:-)

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    • rotewelt schreibt:

      Ja, das stimmt, bunt ist es und sicher ist Fußball ein – nicht unwichtiges Ventil, davon bin ich überzeugt. Freut mich, dass du mit Unbekannten ins Gespräch gekommen bist, das ist ein schöner Nebeneffekt. Ich selbst habe ja auch gar nichts gegen Fußball, wie ich schrieb, und gönne allen die Euphorie und die Freude, nur will ich mir nicht dauernd von anderen anhören, warum ich nicht gucke, wenn doch alle gucken. Danke für deine Sichtweise! 🙂 Das einzig Massenhafte, was ich gut finde, sind manche wichtigen Demos, aber mittendrin zu stehen, wie 1983 auf der Friedensdemo im Bonner Hofgarten, ist mir auch dann unangenehm, da kriege ich Klaustrophobie!

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  4. Ulli schreibt:

    das, was für mich das Ganze fragwürdig macht ist der Bauwahn und all das Geld was für Stadien und Mannschaften ausgegeben wird, statt es sinnvoll für die Nöte in der Welt zu nutzen … hier wird auch über Leichen gegangen-
    nein, ich habe nix gegen Fussbal oder Radrennen, aber ich habe ziemlich viel gegen das WIE

    ich mag es, dass du das Ganze benennst, so wie du es wahrnimmst, ich habe dem nichts hinzu zu fügen- danke dir
    und herzliche Grüsse Ulli

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    • rotewelt schreibt:

      Ja, hier wird Geld verplempert, das manche Menschen dringend brauchen – und tatsächlich gibt es auch Tote, aber so etwas wird ja im WM-Rausch gern übersehen… Danke für deine Einschätzung, liebe Ulli!

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  5. richensa schreibt:

    Ich fühle mir Dir, rotewelt, ich brauche das auch nicht. Vom Aufschrei der Nachbarschaft weiß ich, wann Toren fallen, ob ich will oder nicht, dem antizyklischen Einkaufen habe ich schon 2006 während der WM in Dtl gefrönt. Das ist in meiner Erinnerung auf der Auslöser für die von dir beschriebenen Verhaltensformen, vorher gab es nicht so viele Experten, Fußballgucker und keine FahnenansAutoBastler. Immer machen lassen, aber mich in Ruhe lassen..

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    • rotewelt schreibt:

      Da hast du sicher Recht, Richensa, 2006 habe ich auch erstmals diese bewimpelten Autos gesehen, jetzt erinnere ich mich! Schon acht Jahre her, wie die Zeit vergeht… Genau, lassen wir den Fans ihre Begeisterung und hoffen wir, dass sie ebenso tolerant sind! Übrigens habe ich letztens zwei Spiele ansatzweise geguckt: Frankreich-Nigeria circa 30 Minuten lang und Deutschland-Algerien bis zur 90. Minute, dann fielen mir die Augen zu, die Nachspielzeit wollte ich mir nicht mehr antun. Franzosen und Deutsche ziemlich unkonzentriert, teilweise fast hilflos-stehend auf dem Spielfeld, aber lauffreudige Nigerianer und selbst die Algerier hatten mehr Pepp. Vielleicht gucke ich Freitag nochmal die Langweiler D und F an, aber nur solange, wie ich es ertrage.

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