Auf das Leben

Heute habe ich zwei Nachthemden zerschnitten und in den Müll geworfen, die mir einst meine Mutter geschenkt hatte, die seit sechs oder sieben Jahren nichts mehr von mir wissen will, nachdem ich mich nach Jahrzehnten endlich mal getraut hatte, nicht nur von meinem Seelenleid ihretwegen zu berichten und mich durch diese Verletzlichkeit noch angreifbarer zu machen als ich sowieso schon war, sondern ihr zu sagen, was sie mir (und auch dem Vater und eigentlich auch meinen Geschwistern, auch wenn Letztere, vor allem das Goldkind, es nicht sahen) wirklich angetan hat. Und ich habe mir ein wunderschönes neues Nachthemd gekauft, natürlich auch etwas weniger brav als die alten, wobei das eine sogar auch Spaghettiträger hatte. Für morgen schenke ich mir selbst Blumen, in Brombeertönen. Sie hatte zuletzt am Telefon gesagt: „Weißt du was, wir schenken uns keine Blumen mehr. Wenn ich welche will, kaufe ich sie im Supermarkt“. Peng.

Alles muss verkraftet werden und das kann dauern. Das letzte sorgfältig für sie ausgewählte Geburtstagsgeschenk, ein wunderschönes Wolltuch (sie hatte sich eines in diesen Farbtönen gewünscht) schickte sie mir in einem lieblos zusammengeknüllten Päckchen ohne jedes Anschreiben, also wortlos, zurück, nachdem sie mir vorher schon am Telefon gesagt hatte „Das kann ich nicht gebrauchen“. Rums.

Aber irgendwann lernt man doch dazu als Tochter. Es ist nie zu spät, doch ist kostbare Zeit vergangen, die sich nicht zurückholen lässt. Wie wäre ich wohl geworden, wie selbstbewusst wäre ich in die Welt gegangen, wenn man mich gesehen hätte, geschätzt oder sogar geliebt? Nachholen lässt sich das nicht Gehabte nicht.

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25 Antworten zu Auf das Leben

  1. kormoranflug schreibt:

    Eigentlich vermutet man, dass man als Kind vertauscht wurde. Diese Familie kann nicht meine sein. Später schaut im Spiegel einem der Vater oder die Mutter entgegen. Jeder Tagist ein neuer Tag, Grüße tom

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  2. eimaeckel schreibt:

    Die Eltern waren so wie sie waren. Aber du selbst kannst netter zu dir sein und dich mehr schätzen als sie es taten.

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    • rotewelt schreibt:

      Ja, das versuche ich ja auch. Trotzdem kommen ab und zu immer wieder diese Phasen von Traurigkeit (wenn sie in Wut ummünden, ist es besser). Man hat ja auch Vergleichsmöglichkeiten, so fühlten sich doch die meisten meiner Freundinnen und Freunde von Eltern und Geschwistern geliebt trotz aller normal auftretenden Probleme. Sowas macht einen Menschen viel stärker und spätes Nettsein zu sich selbst kann nicht alles aufholen, was fehlte. Danke trotzdem. Was ich bisher von dir als Vater gelesen habe, macht mich sehr optimistisch, was deine Kinder betrifft!

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  3. Horst schreibt:

    … my mother, poor fish, wanting to be happy, beaten two or three times a week, telling me to be happy: „Henry, smile! why don’t you ever smile?“ and then she would smile, to show me how, and it was the saddest smile I ever saw…

    Buk
    (The Pleasures of the Damned)

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  4. eimaeckel schreibt:

    Danke. Mein Yoga-Lehrer sagte „Das, wovon man am wenigsten bekommen hat, soll man am meisten geben.“ Bei den Kindern versuche ich das. Es ist schwer, aber schön.

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  5. Ulli schreibt:

    Das stimmt wohl, dass man anders in die Welt geht, wenn man ein geliebtes und gefördertes Kind gewesen ist und wenn nicht, dann ist es ein Ringen! Ich weiß leider gut wovon du sprichst.
    Herzliche Grüße
    Ulli

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  6. Red Skies Over Paradise schreibt:

    Auch als Sohn lernt man dazu. Der Vater, der bis heute zu verstehen gibt, dass man nicht genüge und dass man nicht geliebt werde. Die Erkenntnis, dass man sich daraufhin in Frauen verliebt, die das Gleiche zu verstehen geben, weil man jetzt hofft, sich die Anerkennung zu „erarbeiten“, die einem dort nicht gegeben wurde. Ein aussichtsloses Spiel. Ein Teufelskreis, wenn die Partnerin Gleiches erlebt hatte. So lernt man dazu und es befreit. Wie wäre ich wohl geworden, wie selbstbewusst wäre ich in die Welt gegangen, wenn man mich gelassen hätte, geschätzt oder sogar geliebt? Nein, nachholen lässt sich nichts. Man kann sich aber mit Menschen umgeben, die einen wertschätzen. Und so wird aus dem halbleeren Glas immerhin ein halbvolles. Liebe Grüße, Bernd

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    • rotewelt schreibt:

      Warum sollte es auch nur Töchtern so gehen? Mein Bruder wurde zum Beispiel nie von unserem Vater anerkannt – zumindest sagte er das, unterstützt oder sogar nur vorgetäuscht durch unsere Mutter, die die Familie spaltete, den Sohn quasi als Ersatzpartner hochzüchtete (der mit ihr den Vater verachtete und später auch die kleine Schwester manipulierte, selbst aber nie erwachsen wurde, nie eine Beziehung führte und dessen einziges Ziel war, die Mutter zu überleben – was ihm nicht gelang). Na ja, in unserem Fall zog doch die dominante manipulierende Mutter die Fäden, den hilflos-passiven Vater würde ich aber auch nicht glorifizieren, zumal er uns auch im Stich gelassen hat. Tut mir leid, Bernd, dass du auch keine schönen Kindheitserfahrungen hattest und es freut mich, dass du und andere sich hier äußern, weil man sich dann nicht mehr so allein fühlt. Ja, man sollte sich nur mit Menschen umgeben, die einen wertschätzen. Danke und liebe Grüße, Ute

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  7. cablee schreibt:

    Es erstaunt, wie viele Menschen im gleichen Boot sitzen…

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    • rotewelt schreibt:

      Ja, es überraschte mich auch, aber es tut mir auch gut. Denn fast alle meine Freunde haben eine schönere Kindheit gehabt, bei ihnen habe ich mich früher auch viel lieber aufgehalten, da war das Leben, da gab es wohl auch Streit, aber vor allem Liebe. Viele reagierten auch sehr destruktiv, wenn ich mich dann mal öffnete, was meine Familie betrifft. Statt minimaler Einfühlung hieß es da auch schon mal, ich solle doch mal einfach eine andere Perspektive einnehmen, die meiner Mutter. Ja, das habe ich aber ja jahrzehntelang gemacht, ohne an mich zu denken, doch es heilt nicht die Wunden, der Mensch braucht schon auch Empathie.

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  8. Corinna schreibt:

    Ich drücke dir die Daumen dafür, dass die Familie, die du selbst gründen wirst, eine glückliche und liebevolle Familie wird, in der man sich gegenseitig anerkennt und unterstützt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass das „Liebe“ hier in Süditalien sehr viel offenherziger und selbstverständlicher gezeigt wird als in Deutschland.

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    • rotewelt schreibt:

      Liebe Corinna, der Familiengründungsphase bin ich schon lange entwachsen (ich glaube, ich sollte mein Profilbild ändern, aber oll bin ich nun doch noch nicht), aber ich danke dir sehr für deine lieben Wünsche und nachdem, was ich aus meinen vielen Italienaufenthalten, speziell im Süden mitbekommen habe, geht es dort familiär doch viel herzlicher zu: Man hält wohl auch mehr zusammen. Ich denke gerade an eine Kalabrienreise, die ich allein unternommen habe. Obwohl „fremd“, wurde ich von der Familie, die mir die Ferienwohnung direkt nebenan vermietete, wie eine Freundin oder eine nahe Verwandte aufgenommen, ich werde das nie vergessen.

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      • Corinna schreibt:

        Ja, zweimal „Guten Tag“ gesagt, und schon bist du integriert. 😉

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        • rotewelt schreibt:

          Und wie wäre das, wenn ich ganz allein nach Süditalien zöge? Ich spiele alle Möglichkeiten durch momentan. Würde ich dort als Frau nicht komisch beäugt? Habe tatsächlich schon Mietpreise eruiert. In Lecce fand ich wunderbare Wohungen mit Terrasse, und vor allem bezahlbar. Bin für vieles offen.

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          • Corinna schreibt:

            Das einzige Problem wäre sicherlich, dass du nicht lange allein bleiben würdest. 😉 …und komisch beäugt wirst du nicht als Frau, sondern als Deutsche. Die Süditaliener verstehen es nur schwer, dass jemand das vermeintliche Schlaraffenleben in Deutschland gegen Apulien eintauschen möchte.

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          • rotewelt schreibt:

            Soso, na, es gibt Schlimmeres… 😉 Aber da ich nicht mehr jung bin, würde sich der Andrang sicher in Grenzen halten. Obwohl der Italiener an sich ja alle Frauen hofiert, das mag ich an den Männern dort, ob es nun oberflächlich sein sollte oder nicht, es hat Charme, macht Spaß und lockt einem ein Lächeln hervor.
            Ach ja, Deutschland gilt ja überall immer noch als extrem wohlhabend, was es ja auch ist, nur nicht die normalen Menschen, doch das darf ja nicht gesagt werden und dringt deshalb nicht über die Grenzen.

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  9. lightbetweenlights schreibt:

    Ich sende Dir ein ewig gebendes Füllhorm mit Blüten … nur für Dich und voller strahlender Liebe ❤

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  10. wildgans schreibt:

    Es gäbe noch so viel zu sagen! Von wegen im gleichen Boot sitzen, bzw. gesessen haben. –
    Die Aktion „Nachthemd“ finde ich wunderbar!
    Gruß von Sonja

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  11. rotewelt schreibt:

    Die Welt ist klein, oder? Danke dir für deine Worte und liebe Grüße, Ute.

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