„Der Klang der Zärtlichkeit“ – Tanztheater aus Buenos Aires

Vorspann: Offizieller Programmtext
„Dem Regisseur und Choreographen Gonzalo Orihuela gelingt es, Bilder voll Poesie zu erschaffen, die durch eine gehörige Portion Selbstironie nie ins Klischee abrutschen.
Erzählt werden Geschichten von Beziehungen zwischen Liebenden, Freunden oder Fremden. Fragmente alltäglicher Verhaltensmuster – bei der Eroberung, beim Warten, bei einem Missverständnis, beim Auffangen eines zärtlichen Blickes, bei den Erinnerungen an eine vergangene Liebe, bei der Lust – ergeben zusammengefügt den „Klang der Zärtlichkeit“.
Den Rahmen für die Geschichten bildet ein Tangolokal. In dessen Mikrokosmos aus Regeln, Sozialstrukturen und einem ganz eigenen Verständnis der Rollen von Mann und Frau entwickeln sich berührende Momente zwischen den Tänzern, die sich bei allen Einflüssen von Elementen des zeitgenössischen Tanzes oder des Schauspiels immer der Wurzeln des Tangos bewusst sind.
Einer Tanzform, die neben ihrer ästhetischen Werte vor allem auch eine ganz eigene, soziale Welt hervorbringt.“

Ach ja, im Programmheft zur Tournee befindet sich ein Dank an Pina Bausch, durch die die Arbeit zum Projekt inspiriert wurde. Das las ich erst nach der Vorstellung, doch es wundert mich nicht, denn die poetischen Szenen ließen mich mehrfach an die Grande Dame des deutschen Tanztheaters denken.

Persönliche Impressionen und Bilder
Es war wunderschön, es war wirklich getanzte Zärtlichkeit, ein sehr sinnliches Erlebnis, melancholisch, komisch und sehr erotisch. Ja, es hat geknistert im E-Werk! Und es ging viel zu schnell vorbei! Am liebsten würde ich morgen nach St. Gallen fahren, um die letzte Vorstellung der kurzen Tournee noch zu besuchen.

Ich hatte ein Ticket in der ersten Reihe ergattert – wunderbar! Die Bühne empfängt mit gelben Blumen, wie zufällig verstreut. Im Hintergrund ein paar Tische und Stühle. Mehr Bühnenbild würde es während der gesamten Vorstellung nicht geben. Es hätte auch nicht gepasst. Nur Farben setzen die wechselnden Stimmungen in ein anderes Licht.

Anfangs war ich etwas verwundert, keine Musiker zu sehen. Doch wie sich herausstellte, stand der TanzTHEATER-Aspekt im Vordergrund, so war die Musik vom Band gerade richtig. Nichts störte, nichts lenkte ab.

Dann rutscht sie ins Bild, aus dem Dunkel kommend, auf allen Vieren, sucht die Blumen auf, eine nach der anderen, langsam, auch ein bisschen lasziv manchmal. Sehnsüchtig? Danach, gesehen zu werden?

Der traurige Clown jedoch, er hat keinen Blick für die Schöne, für das Treiben zu seinen Füßen. Tief in eigene schwer Gedanken versunken, sitzt er da.

Während sie aufpasst, keine Blume zu vergessen, erscheinen nach und nach zwei weite schöne Tänzerinnen und zwei Tänzer.

Und schon formieren sich aus dem Nebeneinander Paare und wirbeln über die Bühne des Lebens. Noch ist es etwas kühl. Und wechselhaft.

Dann die Aufwärmung: Zur Tango-Perfektion gesellt sich Übermut, man spielt miteinander, um sich auf diese Weise näherzukommen.

Den Clown ficht es nicht an, er sieht nichts von alldem. Die ebenfalls einsame Schöne schenkt ihm Wein ein, sie gibt ihm, was er zu brauchen scheint, jetzt. Vielleicht wird er sie dann sehen…? Er würdigt sie keines Blickes. Doch beginnt er zu sprechen. Zu sich selbst. Unterdrückt klingende heisere Worte rasseln aus seinem Mund. Er leidet.

Die Paare, die sich gefunden haben, nach einigem Hinundher und Neuausprobieren, steigern sich hinein, in den Tango und ihre Gefühle. Nach ausgetauschten Zärtlichkeiten wächst die Leidenschaft, Funken sprühen, das Begehren fängt die Tanzenden schließlich ein, sie vergessen die Welt zu Zweit, hitzige Ungeduld lässt sie sie zu Boden stürzen – ein Tango-Liebesakt.

Die Anderen finden sich nicht. Sie zieht es vor zu schweigen. Und zu trinken. Er wird später aufstehen, zwischendurch. Wird sogar, gesenkten Kopfes, die Ränder der Tanzfläche zeitlupig beschleichen. Und er wird sich vor dem Publikum aufbauen und lauter klagen, je betrunkener er ist. Das ganze Leid der Welt herausschreien, seinen Schmerz. Das Schlechte anprangern, ausufernd, nicht enden wollend. Der Alkohol löst die Zunge. Lo Malo, das Schlechte. Er hat es in sich selbst, aus der Kindheit mitgebracht. Alles ist malo, schlimm, schlecht, böse. Sein ganzes Leben. So malo wie ein kalter Eintopf am Morgen schmeckt. Finstere Melancholie, nicht aufzuhalten.

Auf der Tanzfläche erprobt man sich derweil einzeln in giftigem Neongrün, aber doch synchron. Dann wieder…, weiß man nicht: Freundschaftlicher Tanz oder Konkurrenzkampf?

Die Schöne versucht es noch einmal. Und wenn sie ihm einfach zuhört? Wird es nicht ein warmes Gefühl des Gebrauchtseins in ihm auslösen, wird er sie dann wahrnehmen? Nein, er kann nicht aus seiner eigenen Gedanken- und Gefühlshaut. Nun hat er sich so in sich selbst geschraubt, dass er feststeckt. Na, dann wird sie eben ihre Strategie ändern. Eine wählen, die immer wirkt bei den Männern. Sie spielt all ihre Reize aus, versucht, in seinen Blick zu geraten, tanzt, dreht und wendet sich, stapelt Stühle, klettert hinauf, zeigt demonstrativ ihre immer wieder neu ausgestreuten und eingesammelten Blumen. Nichts. Für ihn, der nur den Innenblick kann heute, bleibt sie unsichtbar.

Verzweifelt geht sie aufs Ganze, greift zum allerletzten Mittel und bietet sich an. Doch er, er stöhnt nur in sein Weinglas. Versuch gescheitert.

Aber es gibt ja noch andere Männer. Was ist mit diesem los? Er träumt sich was. Lässt sein Haar fliegen vor einem Ventilator – buenos aires, guter Wind – und knöpft sein Hemd auf. Luft an die Haut lassen.

Fliegt er, fährt er Wasserski, bespiegelt er sich selbst? Auf jeden Fall ist er glücklich, jetzt, mit seiner Illusion.

Näherrutschen, mit den Blumen. Sind Blumen nicht immer wie ein Geschenk?

Vielleicht kann sie an seinem Glück teilhaben, dem schwebenden? Mit ihm oder wenigstens allein zu Zweit.

Doch ja, sie kann ein wenig mitträumen. Da geht ja Leichtigkeit!

Huch, wie bei Marilyn lässt sie das Kleid hochflattern (als mein Finger den Auslöser nicht rechtzeitig fand).

Diese üben das Spiel der Verführung. Sie zeigen sich, sie verstecken sich, sie öffnen sich, sie verschließen sich, sie weisen ab und ziehen an.

Und er? Nun, im Delirium, hat er sich vom Schlechten abgewandt und gibt sich grandiosen Wunschträumen hin. Ist er nicht in Wahrheit ein Großer? Hat er nicht Aufmerksamkeit und Ehrung verdient? Ja, er bekommt sie, er wird hofiert, von rechts und links, wie ein Star! Bis er zusammenbricht. Die Realität hat ihn wieder eingeholt. Grausam schluchzend liegt er am Boden. Bis ihn die Schöne wieder hoch holt, aufsammelt, wie eine ihrer Blumen.

Doch er, schwankend, macht Tabula Rasa, er räumt auf, so richtig. Wenigstens die Milonga ist für heute zu Ende. Zum Schluss schafft er es noch, seinen eigenen Trümmerberg zu erklimmen. Nein, er erhebt sich, denn kann er nicht von dort oben alles besser überblicken?

Epilog: Buenos Aires hat die höchste Psychologendichte der Welt. In diesem Land der Einwanderer gehört die Melancholie zum Leben. Man versucht, sie zu lindern und man pflegt sie.

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11 Antworten zu „Der Klang der Zärtlichkeit“ – Tanztheater aus Buenos Aires

  1. kormoranflug schreibt:

    Toller Tanz, Du kannst ruhig öfter mal vorbeischauen….

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  2. wassily schreibt:

    Ich war mir bisher absolut sicher, die größte Psychologen- und Therapeutendichte gibt es in der Freiburger Wiehre…

    Toll zu Deinem Thema sind übrigens auch die Fotos von Christopher Pillitz http://www.lumas.de/pictures/christopher_pillitz/the_spirit_of_tango_ii_buenos_aires/

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  3. haushundhirschblog schreibt:

    Was ein Glück für uns, dass Du einen Platz in der ersten Reihe hattest und diese wunderschönen Fotos machen konntest! Vielen Dank auch für den hervorragenden Text dazu; wir saßen somit auch ganz vorne! Vor etlichen Jahren, als ich noch in der Nähe von Wuppertal lebte, besuchte ich immer mal wieder die Vorstellungen von Pina Bausch. Sie gehörte zu der Stadt wie die Schwebebahn, und es war damals nie problematisch, eine Karte zu bekommen. Es war jedes Mal ein ganz besonderes Erlebnis.

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    • rotewelt schreibt:

      Nichts zu danken, mb und dm. Leider habe ich das Tanztheater von Pina Bausch nie live gesehen. Aber wenn ich in der Nähe von Wuppertal gelebt hätte, wäre ich sicher auch öfter zu ihren wunderbaren Vorstellungen gegangen. Ich kann mir vorstellen, dass es ein besonderes Erlebnis war. Den Wenders-Film „Pina“ habe ich auch noch gar nicht gesehen, fällt mir gerade ein.

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  4. Lakritze schreibt:

    Oh, klasse Bilder (ruhige Hand bei schwierigen Lichtverhältnissen)! Und das Theater, es lebe in allen seinen Formen!

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  5. rotewelt schreibt:

    Danke, Lakritze. Ich habe keinen Blitz benutzt, um die Tänzer nicht zu stören und auch weil ich keine „harten“ Aufnahmen wollte und wunderte mich dann selbst, dass die Bilder trotzdem einigermaßen gut geworden sind mit meiner kleinen Digitalkamera.

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  6. cablee schreibt:

    Beeindruckende Fotos, rotewelt!

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