Le Bar de la Marine, drei Besuche und Pagnol

Gleich bei meinem ersten Gang zum Alten Hafen ging ich hier an Bord, an diesem Kai, an dem sich so viele Bars und Cafés aneinanderreihen. Von deren Terrassen blickt man über das Hafenbecken hinweg in Richtung des Panier-Viertels.

Es war früher Abend, mir war danach, einen Apéritif zu trinken und so meinen Besuch von Marseille zu beginnen. Doch wo, bei den vielen Möglichkeiten? Dann sah ich diese schöne alte Tür, die sich von den Eingängen der anderen Cafés unterschied, sie gab den Ausschlag für meine Wahl, obwohl ich draußen sitzen und das milde Ende-März-Wetter genießen wollte. Da wusste ich noch gar nicht, dass die Bar de la Marine eine Berühmtheit ist und sich mit diesem Namen Erinnerungen an das alte Marseille verbinden.

Sehr freundlich war, dass ich zu meinem Porto, der hier großzügig eingeschenkt wird, ein paar kleine Leckereien bekam.

Dreimal war ich dort. Meist war das Publikum gemischt; am Nachmittag sah ich fast ausschließlich Blondinen dort, wie man sie im schicken St. Tropez sieht. Na gut, mit weniger Blingbling. Viele Stammgäste kommen hierher, wie ich aus den Gesprächen mit den freundlichen jungen Bedienungen heraushörte, ich hatte das Gefühl, die einzige Touristin zu sein, sehr angenehm, und so fühlte ich mich mittendrin. Aber in der Feriensaison soll die Bar von vielen Touristen besucht werden, wie ich hörte.

Hierher würde ich auch bei schlechtem Wetter gehen, denn das Innere der Bar ist schön, zum größten Teil alt und sehenswert mit dem erhaltenen Mosaikboden. Die Wände wurden mit Spiegeln, Modellbooten, vielen Bildern und alten Fotos geschmückt, darunter einige des Komikers Fernandel und von Marcel Pagnol, der nicht weit von hier im Städtchen Aubagne geboren wurde.

Und genau wegen Monsieur Pagnol, der von 1895 bis 1974 gelebt hat, hat die Bar Ruhm erlangt. Überall kann man nämlich lesen und vor allem die Marseillais wollen es so, dass hier Szenen aus seiner 1931 verfilmten Trilogie Marius, Fanny et César gedreht wurden. Doch aus Pagnols zugrundeliegendem Drama geht hervor, dass die Bar de la Marine nahe der Place des Lenches gelegen war – und dieser Platz liegt auf der anderen Seite des Alten Hafens, im Panier-Viertel … Dort gab es übrigens tatsächlich eine Bar gleichen Namens (die von den Deutschen im Krieg zerstört wurde…). In Wahrheit aber handelt es sich bei Pagnols Bar um einen imaginären Ort und die Innenaufnahmen wurden im Filmstudio gedreht. Das Bühnenbild des Theaterstücks wurde 1929 für „Marius“, den ersten Teil der Trilogie, für das Théâtre de Paris kreiert. Doch die Geister streiten sich weiter – sollen sie nur.

Pagnol beschrieb das Bühnendekor folgendermaßen:

“L’intérieur d’un petit bar, sur le Vieux-Port, à Marseille. À droite, le comptoir. Derrière le comptoir, sur des étagères, des bouteilles de toutes les formes, ornées d’étiquettes bigarrées. Deux gros percolateurs nickelés. À gauche, le long du mur, une banquette de moleskine qui s’arrête à un mètre de rideau pour laisser la place à une porte fermée. Des tables rectangulaires en marbre, des chaises. À droite du comptoir un escalier à vis conduit au premier étage. Au fond, toutes les portes vitrées ont été enlevées, à cause la chaleur.“

Die Bar de la Marine am Quai de Rive Neuve hat durchaus Ähnlichkeiten mit diesen Vorgaben: Rechts die Theke mit dem Flaschenregal, links die lange gepolsterte Sitzbank, allerdings befindet sich die Treppe in die erste Etage auf der linken Seite und die Tischplatten sind nicht aus Marmor… Und in der Verfilmung ist alles seitenverkehrt, die Theke befindet sich links…

Allein die Außenaufnahmen für den Film scheinen hier, ganz in der Nähe dieser real existierenden Bar de la Marine, entstanden zu sein. Der Rest ist Legende… Aber was macht das schon…, schön wie sie ist, die Bar. Und Legenden sind doch etwas Wunderbares…

Jedenfalls: In Pagnols Bar de la Marine fand das berühmte Kartenspiel statt, bei dem César du Escartefitue gegen M. Brun und Panisse spielten… und betrogen. „Oh Panisse, tu me fends le cœur” gehört zu den bekanntesten Sätzen dieser Szene. Auch gern zitiert wird: „Wenn man nicht mal mit seinen Freunden schummeln kann, dann lohnt’s sich doch gar nicht mehr, Karten zu spielen“ .

Aber worum geht es überhaupt in der Trilogie von 1929, 1931 und 1936? Die Geschichte spielt in den 20er-Jahren. César, Betreiber einer Hafenkneipe, macht sich große Sorgen um seinen Sohn Marius. Der kann sich nämlich nicht zwischen seiner Liebe für die junge Muschelverkäuferin Fanny, die nur Augen für ihn hat, und dem unwiderstehlichen Ruf des Meeres entscheiden. Ach ja, seinen Vater liebt er auch sehr, der Hinundhergerissene. Ihn möchte er ebenfalls nicht gern im Stich lassen, denn womöglich würde er vor Kummer sterben.

Et pourtant la mer est là…

Marius kann dem Ruf des Meeres nicht widerstehen und entscheidet sich schließlich für die Seefahrt. Fanny ist verzweifelt, zumal sie bald feststellt, dass sie ein Kind von Marius erwartet…, was einer Entehrung gleichkommt. 20 Jahre nach dem Weggang von Marius ist Fanny die reiche Frau von Panisse, der sie vor der Entehrung rettete und trotz ihres unehelichen Kindes heiratete. Das Kind, Césariot, ist nun Student. Als Panisse stirbt, verfügt er, dass Césariot den Namen seines wahren Vaters erfährt. Marius aber ist von seinen Träumen auf See enttäuscht worden und nun Automechaniker in Toulon…

Nicht ohne Melancholie, das alles…

Und mir war es egal, ob die Kulisse hier echt oder falsch ist. Wer weiß, vielleicht war die junge Frau dort vorn gerade von einem Meereswütigen verlassen worden… Und die Polizei schrieb Verkehrssünder auf.

Jedesmal brodelte hier, bei dieser Bar, das Leben. Doch nur einmal, für einen kurzen Moment, bemerkte ich, dass es laut war: Stimmengewirr um mich herum, Verkehrslärm vor mir, Bauarbeiten irgendwo hinter mir. Wie war es möglich, dass ich das alles gar nicht wahrgenommen hatte? War ich in Gedanken, träumte ich? Schaute ich nur, wie so häufig am Meer, und vergaß alles Denken?

Zwei Freundinnen im Gespräch hinter dem Windfang im Nebencafé. So wie die leicht schlierige transparante Trennwand den Wind abfängt, so wehrte meine innere Ruhe schnell wieder alle Geräusche ab. Schon hatte ich meine Stille wieder, meinen Kokon im brodelnden Marseille, am Alten Hafen. Die Wirklichkeit verschwamm zu einem inneren Film. Wie schön die Getränke in den Gläsern leuchteten in der sich verabschiedenden Sonne.

Es wurde Zeit, etwas essen zu gehen.

Der Filmregisseur Jean-Charles Tacchella hat das Kino von Pagnol so beschrieben: „En sortant d’un de ses films, on était heureux.“

Nun, auf jeden Fall habe ich vor der Bar de la Marine – während meiner kleinen Besuchstrilogie – auch ein paar kleine Glücksmomente erlebt. Ob es am Mythos der Bar lag, an Pagnol, an der Stadt…?
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Zum Abschluss noch ein paar Filmszenen aus der Trilogie Marseillaise „Marius, Fanny, César“:

http://www.youtube.com/watch?v=w8rXPeB8-DY&list=PL8496E95E2E7C4D06&index=9&feature=plpp_video

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14 Antworten zu Le Bar de la Marine, drei Besuche und Pagnol

  1. Uffnik schreibt:

    Hast wieder nix gesagt. Ich wollte doch mit 😉

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  2. kreadiv schreibt:

    Faszinierende Bilder und Stimmung!

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  3. haushundhirschblog schreibt:

    Glücksmomente sind ja überall schön, aber in oder vor dieser Bar … hach!

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  4. cablee schreibt:

    Es ist doch immer wieder schön, mit dir virtuell herumzureisen, rotewelt 😉

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  5. erinnye schreibt:

    Du Weitgereiste! Schon wieder etwas zum Träumen. Behältst Du die vielen Eindrücke einfach im Kopf oder machst Du dir da Notizen?

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    • Franfreichrotewelt schreibt:

      Ach, erinnye, ich bin überhaupt keine Weitgereiste und oute mich nun: Niemals – bisher – bin ich über Europa hinausgekommen. Aber es gibt für mich in Europa so viele wunderbare Länder und Orte und ich habe das Gefühl, es gibt noch viel zu entdecken, allein in Frankreich. Außerhalt Europas reizen mich primär Marokko, Kuba (wegen des Son), Buenos Aires (wegen des Tango und überhaupt) und New Orleans (auch wegen der Musik), aber noch war der Drang nicht groß genug. Auch sind lange Flugreisen sind nicht so mein Ding, ich fühle mich eingesperrt, unfrei und ausgeliefert.
      Ach so, Notizen mache ich mir nie, ich habe ein Elefantengedächtnis.

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  6. karu02 schreibt:

    Mir geht es ähnlich wie Dir, keine Fliegerei, es gibt genug zu sehen in Europa und in Frankreich sowieso. Du beweist das gerade. Danke.

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    • rotewelt schreibt:

      Ich bin erfreut, dass es noch andere Menschen gibt, denen es so geht wie mir. Oft werde ich sehr bestaunt, weil ich noch nicht in den USA oder Asien oder Afrika war, als müsse man das und als sei man sonst nicht weltoffen, nicht neugierig. Ich finde eine solche Einstellung seltsam.

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      • karu02 schreibt:

        Mir fällt oft auf, dass die sog. Welt- oder Weitreisenden nirgendwo wirklich gewesen sind. Persönlich kenne ich auch nur Gruppen-Weltreisende. Es ist mir immer ein Rätsel gewesen und wird es bleiben, wie man als Gruppenmitglied etwas sehen und erfahren will.

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  7. rotewelt schreibt:

    Viele Fernreisende jetten sicher nur durch die Welt, lassen sich in Touristenreservate bringen und bleiben dort, ohne Land und Leute kennenzulernen. Die sind wirklich nirgendwo gewesen, denn ihre Reservate unterscheiden sich kaum. Meine Freunde, die fast alle Fernreisen gemacht haben oder noch machen, sind allerdings keine Pauschaltouristen, die sehen wirklich etwas. Trotzdem beneide ich sie nicht, bislang jedenfalls. Da können sie sich noch so sehr wundern, dass es mich nicht in diese Ferne zieht.

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